Segelhölle06 - Die Reise an meine Grenzen und wieder zurück
<16:38> Ich habe den Beweis: Die Super-Sonderangebote der Deutschen Bahn Glück gibt es auch für normale Menschen. Wenn man für 30 Euro nach Nijmegen/Holland fährt, macht die Zugfahrt gleich doppelt so viel Spass. Juhuu Segeln! <20:50> Schon in Holland! Meine Schwester ruft mich an und will mir eine andere Telefonnummer durchgeben, falls ich den Anschlusszug verpasse und ihr Bescheid geben möchte. Ich sage ihr, dass ich leider nichts zum Schreiben dabei habe. Sie sagt: "Verdammt, Eli, sie ist ganz einfach: 2523444. nochmal: 2523444. Das kannst du dir doch wohl merken!" Ich antworte: "Da bin ich mir nicht so sicher! Aber falls es nicht klappt, musst du halt einfach zwei Mal zum Bahnhof kommen." Meine Schwester meint: "2523444, und wenn du dir das nicht merken kannst, wird dir dein Abitur nachträglich aberkannt!“ Ich lege auf und suche nach einem Stift. Da fällt mir ein, dass mein Handy durchaus in der Lage ist, Telefonnummern zu speichern. Etwas peinlich berührt schreite ich zur Tat: 2325444. Ist ja wirklich nicht so kompliziert. <22:37> Ankunft in Nijmegen. 12 Grad und Regen. Bestes Segelwetter. Ich übe mich in Galgenhumor. <23:00> Hurrah! Es gibt frischen Apfelkuchen! Nach einem veganischen Rezept. Meine Schwester sagt „veganistisch“. Ich finde, das trifft es noch besser. Der Kuchen ist Opfer eines klassischen Übersetzungsfehlers geworden und enthält die doppelte Portion Gewürzpulver. Ich entscheide mich für die heissen Maronen. Nachdem ich gierig die fünfte Marone gepellt und gegessen habe, ermahnt mich meine Schwester, nicht unhöflich zu sein und zu viel zu essen. In dieser Wohngruppe sei Maßhalten angesagt. Ich bekomme Heimweh. <1:45> Zähneputzen mit kaltem Wasser. Das Bad wird renoviert. Duschen kann man nur im Nebenhaus. Aber wer denkt schon an Körperpflege und Kosmetik, wenn er sich auf den Weg an seine psychischen und physischen Grenzen macht! <10:50> Der nächste Morgen - Raus aus der slaapkamer! Und zeit für die Kontaktlinsen. Wie schön, die einmal nicht aus Eitelkeit sondern aus rein praktischen Erwägungen zu benutzen! <11:00> Was soll ich anziehen? Flowery flowers, cheery pink, hopeful green? Mit dem Wissen, dass man die Klamotten, die man jetzt auswählt, die nächsten 3 Tage nicht mehr ausziehen wird, bekommt diese Frage eine ganz neue Bedeutung. <11:21> Auch an Haarewaschen wird in den nächsten Tagen wohl nicht zu denken sein. Ich benutze eine extra-Portion Haarspray, um die duftige Pracht möglichst lange zu konservieren. Ich stelle betrübt fest, das es noch ein langer Weg bis zur Harten Wurst ist, solange ich solche Gedanken habe. <11:34> Frühstück! Hugo sitzt in der Küche und leistet mit Gesellschaft. Ich frage ihn, ob er auch mit Segeln kommt. Er verneint und setzt nach, dass er ja nicht bekloppt sei. Er hätte den Wetterbericht gehört. Außerdem wolle er lieber mit seiner 90jährigen Oma auf den Golfplatz, sie möchte das auch endlich mal lernen. Harte Wurst! <16:45> Es regnet. Abendbrot muss gemacht werden. Jun schlägt Nudelsalat vor. Gerd übernimmt die Küchenleitung. Er trägt eine rote Schürze mit der Aufschrift „Organic Food Fighter“. Als erstes schneidet er 2 Stangen Porree in die Nudeln. Ich hasse Porree. <17:30> Aufbruchszeit. Es hat sich eingeregnet. Endlich kommt meine Schwester nach Hause. Sie hat die Isomatte, die für mich gedacht war, in der Uni liegen lassen. Sie hat noch 10 Minuten zum Packen und verbringt 3 damit, die richtige Hintergrundmusik auszusuchen. Sie entscheidet sich spontan für eine Verdi-Oper. Schön dramatisch! <18:30> Judith ist da. Es regnet in Strömen. Wir verstauen Gepäck und Essen im Auto. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass auch 3 Stangen Porree eingepackt werden. Porree! <20:43> Ankunft im Jachthafen in Heeg. Der Regen macht Pause, und der Wind dreht auf. BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM Die Seile an den Booten schlagen mit voller Wucht an die Masten und machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Ich muss an ein wildes Tier denken, dass mit Schaum vor dem Mund in einem Käfig gegen die Gitterstäbe springt. Ich bekomme ein wenig Angst. Ein Aushang am Gebäude verheißt Windstärke 6 für den nächsten Tag. <21:05> Wir beladen „Impala“ und „Janna“. Nur Janna hat einen Motor. Maarten und Sjoerd zünden Öllampen an und ziehen sie am Mast hoch. Mit der Impala im Schlepptau tuckern wir in einer feierlichen Prozession den Kanal entlang bis zur Nachtlager-Insel. <21:30> Auf den Booten ist nur Schlafplatz für 8 Personen, 2 von uns müssen im Zelt übernachten. Ich stelle mich freiwillig zur Verfügung und alle sind dankbar. Wenn es nur immer so einfach wäre! <23:50> Der Porree kommt unter das Vorzelt. Gute Nacht! <09:30> Toto! We're still in Kansas! <10:15> Frühstück auf dem Boot. Wir verstecken uns unter den Plastikplanen vor Regenschauern und Windböen und essen Haferschleim. Ich schlage alle Warnungen in den Wind und organisiere mir einen Becher Kaffee. <11:23> Es geht aufs Boot! Westen an und den Anweisungen gelauscht. Skipper Sjoerd teilt mir mit, dass mein Platz ganz vorn ist. In unmittelbarer Nähe der unkontrolliert um sich schlagenden Seile des Fok-Segels. Ich entscheide, nicht mit dem Skipper zu streiten. Sjoerd gibt mir den freundlichen Rat, dass ich alles, wovor ich Angst habe, auch nicht zu tun brauche. Was hat meine Schwester bloß von mir erzählt?! <11:40> Meine Schwester und Judith sind die "Fokanisten" und bedienen das Fok-Segel. Sie lernen 3 Kommandos. Fok loss! Fok aan! Fok over! <11:52> Meine Schwester hört nicht auf, die 3 Kommandos vor sich hin zu murmeln. Ich frage sie, ob sie nicht mehr in der Lage ist, sich 6 Wörter zu merken. Das kann doch nicht so schwer sein! Sie schaut mich an und sinnt auf Rache. <12:30> SuperSkipper Maarten schafft es mit seiner Crew aus dem Kanal – gegen den Wind. Wir kehren auch nach 20 Minuten angestrengtem "Fok loss! Fok aan! Fok over!" immer wieder zu unserer Ausgangsposition zurück und schalten entnervt den Motor an. Aus Angst, auf dem Boot einzuschlafen (Nebenwirkungen!), verschiebe ich die Einnahme der Reisetabletten bis auf weiteres und vertraue mich blindlings den Akupressur-Armbändern an, die mir die Bahnhofs-Apothekerin für 21 Euro vertrauensvoll ans Herz gelegt hat. Windstärke 6. Pah! Ist doch alles nicht so wild. <12:52> Angekommen auf dem See! Windstärke 6, meine Herren. Die Nussschale tanzt auf den Wellen und das Seil des Fok-Segels schlägt wild um sich. Ich rücke ein Stück weg in die Mitte des Bootes. Sjoerd beordert mich wieder in die Gefahrenzone. Ich bekomme den ersten Schwall Wasser ins Gesicht und das Fok-Seil in die Fresse. Ich entscheide, den Skipper-Anweisungen künftig mit gebührender Skepsis zu begegnen. <13:16> Mein Magen meldet sich leise zu Wort. Ich nehme eine Reisetablette. Meine Schwester meint, das tolle am Segeln sein, dass man mit seinen Gedanken total in der Gegenwart ist. Ich bin mit meinen Gedanken überall, nur nicht auf diesem Boot. <13:45> Meine Schwester ist am Steuer. Wir brettern über die Riesenwellen. Weder die Reisetablette, noch die Armbänder zeigen eine Wirkung. Ich laufe grün und blau an. Sjoerd hält mir einen Schöpfbehälter hin, ich breche in Oranje-Orange. Meine Schwester singt Seemanslieder. Ohé ohé Matelot... <14:05> Sjoerd schlägt vor, dass ich mich auf den Bootsrand setze, so weit nach vorn wie möglich, damit ich die Wellen im Blick habe. Er meint, es (alles) sei leichter zu ertragen, wenn man vorher wisse, was kommt. Ich bin grundsätzlich anderer Meinung, aber zu schwach um zu diskutieren. Ich setze mich nach oben und kralle mich an irgendwelchen Seilen fest. Ganz vorn zu sitzen hat den zusätzlichen Nachteil, dass man als Wellenbrecher für das gesamte Boot fungiert. Vor lauter Wasser im Gesicht bekomme ich kaum Luft. Meine Schwester brüllt zu mir herüber: „Eli! Das ist genauso wie du es dir vorgestellt hast, nicht wahr?! In deinen schlimmsten Alpträumen!!!“ Sie singt "My heart will go on". Meine Jacke stellt sich als nicht wasserdicht heraus. Alle 5 Kleidungsschichten sind nass. Ich schlottere so sehr, dass es mir schwer fällt, mich überhaupt noch festzuhalten. Ich denke "Mir wird niemals wieder warm werden". Ich denke auch "Wie schön, dass mir jetzt eine Nacht im Zelt bevorsteht." Ich formuliere den Gedanken etwas dramatischer. Außerdem denke ich „Wenn ich von diesem Boot runter komme, gehe ich im Leben auf kein Segelboot mehr“. Ich sage den Satz laut. <16:03> Ein paar Klamotten sind tatsächlich trocken geblieben. Die Sonne scheint. Ich kann meine Hände wieder fühlen. Ich bekomme Hunger. Es gibt Schokolade. Die Lebensgeister kehren zurück. <21:02> Joris packt seine Gitarre aus. Und ein Liederbuch. Joris singt gut. Er singt "Bella Ciao". Er singt "We shall overcome". Er singt Anti-Ausbeutungs-Revolutionslieder. Meine Schwester und ich versuchen, das Liedgut durch durch ein paar schmierige Trinklieder und Roxette-Stückchen aufzubessern. C'mon join the Joy Ride! Niemand beteiligt sich. Joris singt "Wenn du gegen Unterdrückung bist, sollst du aufsteeeehn..." <11:30> Zum Frühstück gibt es Kaffee und Reisetabletten. Der Wind hat sich gelegt. Die Skipper schätzen "Windstärke 3". Ich darf ans Ruder und spüre einen kleinen Anflug von Befriedigung. September 2006: Meine kleine Schwester lädt mich ein, sie auf ein Segelwochenende mit ihren holländischen Freunden auf einem friesischen See zu begleiten. Im Oktober. Es wird windig sein, kalt und regnerisch. Ich werde seekrank. Ich sage meiner Schwester freudig zu. Wer möchte denn nicht an seine Grenzen gehen?
<15:30> Mit zitternden Knien klettere ich an Land und nehme die Verhandlungen für sofortige Abreisemodalitäten auf. Ich verleihe meinen Forderungen mit Weinerlichkeit Nachdruck und erschrecke vor meiner eigenen Mädchenhaftigkeit.
<15:45> Mit eingefrorenem Hirn verhandelt es sich schlecht. Ich verliere. Die Gruppe entscheidet, auf den zweiten Törn zu verzichten und es sich stattdessen auf der Grasnarbe im See gemütlich zu machen. <20:10> Ein paar Pfadfinder haben trockenes Holz gefunden und machen ein Lagerfeuer. Jun hat gekocht. Es gibt Quinoa mit Pilz-Tomaten-Gemüse und Porree. Weil ich so eine bemitleidenswerte Gestalt bin, habe ich durchsetzen können, dass der Porree einzeln gekocht wird. Der Rest schmeckt. Ich werde satt. Mir ist warm. Es ist ein Wunder.
1 Kommentar:
toll toll! nur ein paar längen. aber jetzt muss ich erst mal produktiv werden, dann gibt's Details. Malinowski wartet auf mich mit seinen Trobriands.
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