Peer-to-Peer-Predigt

Traditionen sind etwas Wunderbares. Sie geben uns Halt, nehmen uns Entscheidungen ab und rechtfertigen sich selbst durch immerforte Wiederholung. Wie guter Wein werden sie mit jedem Jahr, jeder Wiederauflage, jedem zusätzlichen Millimeter an Staubschicht, wertvoller. Anders als bei gutem Wein ist ihre Grundsubstanz allerdings eher nebensächlich. Beziehungsweise scheint die Regel zu gelten: je abstruser, desto wirkungsvoller. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, angedickten Karpfensud mit Pfefferkuchenbrocken zu vermengen und zu Sauerkraut und Hartwurstknackern zu reichen, hat ein soziales Experiment der Sorte „how low can you go“ gestartet. Trotzdem - oder gerade deshalb - können sich wohl Generationen von Exil-Schlesiern kein Weihnachtsfest ohne ihre Polnische Tunke vorstellen.

Traditionen (oder wahlweise Rituale) kann man nie genug haben. Diese Erkenntnis hat sich schon soweit durchgesetzt, dass sich bereits ein entsprechendes Berufsbild etabliert hat. (Jawohl. Martina Görke-Sauer ist von Beruf "Ritual-Designerin") Wär das nicht was für mich?

Auf der Suche nach Grundmaterial für neue, sinnstiftende Traditionen habe ich eine Entdeckung gemacht, auf die man in meinem Freundes- und Bekanntenkreis bislang unerklärlicherweise verzichten muss: den Weihnachts-Rundbrief. Entscheidend ist, dass nicht nur die Familie und enge Freunde in den Genuss der warmen Weihnachtsworte kommen, sondern jeder Eintrag im Adressbuch mit wahlweise spirituell-esoterischem oder messianisch-belehrendem Gequatsche bedacht wird.

Anbei ein Text von wahrhaft Beckett’schem Format. Wer ihn mir erklären kann, wird von mir bekocht. (Holländisch, mit meinem neuen oranje-farbenen Kochtopf) Interpretationsversuche nehme ich hier vor Ort entgegen, alternativ per Gedankenverschmelzung oder über die üblichen Koordinaten.


„Es ist schön zu leben, weil leben anfangen ist, immer, und in jedem Augenblick.“ (??!?)

Agent-Procrastinateur entgegnet entrüstet: Was, bitte, soll das Schöne am Anfangen sein? Anfangen ist anstrengend, Aufhören – hui – noch viel mehr. Das Schönste am Leben ist doch das Weitermachen. Weiteressen. Weitertrinken. Weiterlieben. Weiterschlafen.

Größtes Glück: Der Moment, in dem man mit einer lässigen Handbewegung alle Zweifel und Bedenken wegwischt, die sich leise von hinten anschleichen wollten, um uns zum Anfangen oder Aufhören zu bewegen.

Daher, und im weihnachtlichsten Sinne: ich wünsche Euch allen fröhliche Maßlosigkeit - ohne Reue.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

FräuleinU. Ich wünsche frohe Festtage gehabt zu haben und noch zu haben. Das als erstes. Als zweites: Text von Nachbars (oder wer hat das geschrieben?) klingt nach dem Ergebnis heftiger Saufgelage. Als Interpretationsidee: ich glaube da Tod im allgemeinen mit Aufhören und Beenden assoziiert wird, ist es nur konsequent, im Suff darauf zu beharren, das das Leben als Gegenteil vom Tod dann wohl anfangen bedeutet. Prost! aj

FräuleinU hat gesagt…

okayyy. das mit dem leben und dem anfangen unterschreibt auch der biologe. und all die unter euch, die schon mal selba die zündung fürs leben betätigt haben. mich irritiert allerdings (vor allem in diesem zusammenhang) die betonung auf "immer, in jedem augenblick". und der gedankenbrei auf der rechten briefseite (der nicht von den nachbarn, sondern von "freunden" stammt) bleibt weiterhin unverständlich. aber sei's drum: es gibt pindakaassuppe! kleiner tipp, um die vorfreude anzuheizen: käse ist da keiner drin!