6:20, Offenburg

Der Nachtzug ist dunkelblau. In einem dunkelblauen Zug lässt es sich sicher hervorragend schlafen, auch wenn die Farbgebung auf den ersten Blick etwas Beängstigendes hat.

Beängstigend ist auch mein Sitznachbar, den ich kurz nach dem Einsteigen in Augenschein nehme. Ein hinkender Opa mit Stoffbeutel und diversen Plastiktüten im Schlepptau hat den Platz neben mir reserviert, setzt sich aber, dem Herrn sei gedankt, auf die andere Fensterseite, da dort eine Bank freigeblieben ist. Kurz nach der Abfahrt in Berlin kramt Hinke-Opa in einer der Plastiktüten und zaubert eine Flasche Köstritzer hervor. Mit seinem Schlüssel versucht er, den Kronkorken zu entfernen. In mir krampft sich etwas zusammen. Ich kann das Gefühl nicht genau zuordnen, aber so viel ist klar: es gibt kaum einen erbärmlicheren Anblick als einen älteren Herrn, der, umgeben von Plastiktüten, eine geschlagene halbe Stunde versucht, mit seinem Schlüssel eine Bierflasche aufzubekommen. Als es endlich zischt, bin ich kurz erleichtert. Dann erfüllt der süssliche Malzgeruch von dunklem Bier das Abteil und mein Magen zuckt erneut zusammen.

Kurz vor Hannover werden die Fahrkarten kontrolliert. Tüten-Opa zeigt sein Ticket vor - Reiseziel: Offenburg - und schläft er auf der Stelle ein. Zumindest lässt dies sein geräuschvolles Atmen vermuten. Sehr geräuschvoll. Nass. Röchelnd. Es steigert sich zu einem voluminösen Schnarchen, um auf dem Höhepunkt kurz auszusetzen und wieder leise gurgelnd zu beginnen. Die hypnotische Schnarchsymphonie zersetzt mein Hirn.

Wo zum Teufel liegt Offenburg?

Den Kopf im Nacken und mit offenem Mund sitzt er da. Seine weiße, flaumige Kehle vibriert wie ein zitterndes, neugeborenes Rattenjunges.

Mein oxidierender Geist stellt verschiedene Überlegungen an, um bis Zürich zu retten, was noch zu retten ist. Soll ich mit nassen Papierkügelchen werfen? Sollte ich mich an die Bar setzen, und mir ebenfalls ein Bier genehmigen? Ich habe gehört, dass man an der Bar von Nachtzügen die interessantesten Leute kennenlernt. Interessant ist relativ.

Ich verfluche mich dafür, die Ohropax vergessen zu haben und lasse Jack Johnson singen so laut er eben kann. Was dem Schlafversuch auch nicht eben zuträglich ist. Und in jeder Pause zwischen den Songs wird ein Stück meines Verstandes herausgesägt. Mein Hass auf Schnarch-Opa beginnt pharaonische Ausmaße anzunehmen.

Ich blättere in meiner Reiselektüre. Max Frisch fragt: "Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, daß es dazu nie gekommen ist?"

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich sass mal neben einem Herren dessen halbes Gesicht vernarbt war. Er sah in etwa so aus, wie man es annehmen würde wenn man auf einer Seite des Gesichts ein paar hundert Meter über eine Bundesstrasse in
schlechtem Zustand geschleift werden würde. Hat mich nicht beruhigt. Abfahrtsort war auch Berlin, nebenbei. Bemerkenswert in den CityNightline zügen sind auch die übergrossen, kratzenden
Acryltaschentücher die sie als "Decken" bezeichnen.

FräuleinU hat gesagt…

Das Phantom der Oper ohne Maske!! Und ohne Oper! Wie geil! Also: Vor die Wahl gestellt zwischen optischer und akustischer Belästigung wähle ich stets und ohne zu zögern die Optische - aber das ist wohl abhängig von der Persönlichkeitsstruktur und dem Ausstattungsgrad mit Ohropax. Davon abgesehen war mir die Reise eine Lehre. Ab jetzt bin ich nur noch umweltterroristisch mit den Freunden in Orange unterwegs.

Anonym hat gesagt…

Meine zukünftige Mitbewohnerin studiert in Offenburg!?

FräuleinU hat gesagt…

schnarcht sie denn? oder trägt sie eine maske?! oder beides?!! ach, da fällt miss empirie siedend heiss ein: in offenburg sind ja noch andere leute ausgestiegen, der statistische schluss ist nicht ganz einwandfrei. aber eines ist schon mal sicher: sie redet komisch! brrrr, ländle.