Surrealität

Herr Ma, Botschafter der VR China in Deutschland, stellt im schlecht sitzenden Anzug einen neuen Rekord auf der nach oben offenen Unsympathen-Skala auf und leiert mit Proleten-Akzent seinen Text über die Erfüllung von Planzahlen herunter. Aller Planzahlen, wohlgemerkt. Das wird mir zumindest glaubhaft versichert, denn Herr Ma spricht nur Chinesisch. Was im Grunde nicht weiter verwundert, da ich mich auf dem Neujahrsempfang der Chinesischen Botschaft in Berlin befinde.

Was nun folgt, ist eine Parade der Seltsamkeiten. Ein deutscher „Zahnarzt und Schriftsteller“ singt von einem Bein aufs andere schwankend chinesische Schlager zu Begleitmusik vom Band. Ein riesiger Deutscher spielt im lächerlich-folkloristischen Dress im Trio mit 2 Proto-Chinesinnen ein seltsames Saiteninstrument, eine Art Laute mit Flunder-Corpus, dessen fehlender Resonanzraum sich ziemlich ungünstig auf den Klang auswirkt. Ein chinesischer Stand-up-Comedian verursacht mit seiner gefühlt-halbstündigen Darbietung starke zerebrale Krämpfe, aber spricht zumindest die einzigen deutschen Sätze des Abends: „Dlei Chinesen mit nem Kontlabass“ (Hahaha, die Chinesen können kein R.) und „Bir pahren nach Prankpurt zum Plughapen“ (Hahaha, dafür können dir Koreaner weder W noch F.).

Thank God, back to music: Eine Uigurin tanzt ihren Turktanz, der Botschafter pult sich -knipp-knapp- an den Fingernägeln und wird erst wach, als sich eine leicht bekleidete aber stark geschminkte Dame in Hüfthosen auf dem Bühnenboden räkelt. Ein angestrengter Freizeit-Tenor singt Puccini, zwei weniger angestrengte Chinesen singen "Tonight" aus der West Side Story, was unter dem Motto der kulturellen Integration ja möglicherweise zu begrüßen ist aber trotzdem reichlich deplatziert wirkt. Peking-Oper-Man lässt mich trefflich über die Distanz zwischen den ästhetischen Empfindungen von Europäern und Chinesen sinnieren, deren Größe ich kaum ermessen kann, sie ist weit wie der Ozean.

Ein Chorauftritt folgt - nachdem die genaue Funktion einer Chortribüne von den Ensemble-Mitgliedern diskutiert wurde. Die Frauen sind gekleidet in orange Pralinen. Ich bin geblendet.

Wieder zu Hause kuschele ich mich satt und zufrieden ins Bett. Mission accomplished. Surrealität gefunden.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebeli,

du tust unseren chinesischen Freunden unrecht. Ich als Kenner der chinesischen Kultur, Geschichte und nicht zuletzt auch der Sprache kann nur sagen, dass der Abend in ganz trefflicher Weise das "chinesische Dilemma" widerspiegelt. Da habe ich doch dieser Tage in Gernets "Die Chinesische Welt" von einer zunehmenden Alienation (Selbstentfremdung) und Minderwertigkeitskomplex der Chinesen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und Beginn des 20. Jhd. gelesen, bedingt durch den Einfall ausländischer, imperialistischer Staaten in China. Eine These, die man, angesichts der Städtearchitektur von z.B. Shanghai, nur bestätigen kann. Ich fand den Abend recht amüsant, aber bei mir ist die Sprachbarriere auch nicht vorhanden (der Komiker war wirklich sehr lustig), Pekingoper ist allerdings immer wie Zahnziehen ohne Betäubung.

Grüße aus Goa,
SHS

FräuleinU hat gesagt…

der imperialistische westen ist schuld an der surrealität der abendveranstaltung in der botschaft?

glaube ich sofort! zumindest waren die krassesten abartigkeiten mit deutschen nasen besetzt. aber genau an welcher stelle chinesische minderwertigkeitsskomplexe zu beobachten waren, musst du mir noch mal erklären. für mich wirkte es in summe eher wie ein rülpsender bauarbeiter bei einer tanzvorführung in der fußgängerzone, im paradiesischen zustand totaler ignoranz der eigenen außenwirkung, gesegnet mit verachtung aller sogenannter „hochkultur“.

yeah baby, da will ich auch hin!

Anonym hat gesagt…

Liebeli,

nun ja ... Selbstentfremdung und Minderwertigkeitskomplex sind natürlich nicht ausschließlich auf den Einfluss des imperialistischen Westens zurückzuführen. Der Spitzfindigkeit halber sollten auch die Angriffe des zaristischen Russlands und des kaiserlichen, ehemals tributpflichtigen Japans (vor allem der Vertrag von Shimonoseki in 1895 war von besonderer Tragweite) nicht unerwähnt bleiben. Dem interessierten Leser seien zwei Publikationen empfohlen: (1) Jacques Gernet: Die chinesische Welt und (2) Jonathan Spencer: Chinas Weg in die Moderne. Vor allem Spencer gibt einen sehr ausführlichen Überblick über die chinesische Geschichte, während Gernet sich vor allem auf kulturelle Themen konzentriert.

Details später.

Beste Grüße aus Goa,
SHS