Sie sind Wissenschaftler, haben gerade ein Buch veröffentlicht und wenn Sie nicht schnell ein paar Exemplare verkaufen, müssen Sie wegen des schlecht verhandelten Druckkostenzuschusses in den nächsten Monaten von Studentenfutter leben? Einfach Jean Twenge bei der Arbeit über die Schulter schauen. Die Psychologie-Professorin an der Universität von San Diego zeigt Ihnen, wie Sie schnell und billig wieder Fleisch auf den Teller kriegen. Chakkah!
Man nehme:
- eine Meta-Analyse, durchgeführt zwischen Frühstück und Mittagessen, und davon abgeleitet...
- eine möglichst düstere Prognose für den Zustand der Gesellschaft, wofür man schnell einen Schuldigen sucht, und zwar...
- die Medien natürlich, Dummy, und zwar am besten (jaja, man kann es nicht mehr hören aber einmal muss es noch sein) Web2.0!
Soweit das Rezept. Jetzt schauen wir mal, was Frau Twenge in den Topf geworfen hat:
- eine Meta-Analyse des "Narcisstic Personality Inventory" (NPI) (Auf Seite 5 des Dokuments gibts die Items). Diese Skala zur Messung einer Neigung zu narzisstischer Persönlichkeitsstörung wurde zwischen 1982 bis 2006 immerhin 16.475 US-Amerikanischen Studenten vorgelegt. Und siehe da...
- die jungen Leute von Heute haben viel höhere Werte auf der Narzissmus-Skala als die Jungs und Mädels, mit denen Twenge selbst zur Schule gegangen ist. Das macht ihr Angst. Und nun der Blick auf die Anklagebank:
- Die Eltern, natürlich, sind immer schuld wenn etwas mit der Jugend nicht stimmt. Diesmal ist es weder die Laissez-fair- noch die autoritäre Erziehung sondern übertriebenes Lob. Hmm. Und direkt neben den Eltern sitzen immer... na klar: die Medien.
- "Die modernen Technologien sorgen dafür, dass der Narzissmus zunimmt", meint die Psychologin, allen voran die Foren der Selbstdarstellung MySpace und YouTube.
- Was passiert, wenn diese Ausgeburt der Mediengesellschaft erwachsen wird? Twenge schwant übles: Aufgeblähte Egos sind im Weg, wenn langfristige, emotional reife Beziehungen eingegangen werden sollen. Die Erwartungen sind groß, das emotionale Interesse am Anderen gering, Frustration wird schwer ausgehalten. Wenn die Erwartungen nicht eingelöst werden, können die narzisstisch Gekränkten ausschlagen.
Fertig ist das Werk!
Fast vergessen: auf keinen Fall Zeit mit Publikationen in der Fachpresse verschwenden. Raus mit der Pressemeldung! Es geht ja schließlich um den Buchverkauf und nicht um den Nobelpreis.
Et voilà, guten Appetit:
>>Wenn Jean Twenge, Professorin am Institut für Psychologie der San Diego State University, recht hat, dann ist das Internet in seiner aktuellen Form des "Mitmach-Web" ein einziges großes Experiment an der heutigen Jugend. "Die modernen Technologien sorgen dafür, dass der Narzissmus zunimmt", meint die Psychologin, "MySpace befriedigt schon aus seinem Namen heraus die Sucht nach Aufmerksamkeit. Und YouTube mit seinem Slogan "Sende Dich selbst!" ebenfalls".<< [http://www.heise.de/tr/artikel/90972/from/rss09]
An diesem Gedankengebäude müssen noch dringend ein paar Schrauben angezogen werden.
Aber von vorn: Narziss – Achtung griechische Mythologie – verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild, was ihm gar nicht gut bekam. Im Alltagsverständnis ist ein Narziss ein Mensch, der sich sehr auf sich selbst bezieht und dabei andere (Menschen, Natur usw.) vernachlässigt. Narzissmus ist übertriebene Selbstliebe. Eine narzisstische Gesellschaft schätzt stärker Werte des Eigennutzens als die des Gemeinwohls. Soweit, so schlecht.
Ich wende den Blick vom Allgemeinen zum Speziellen und zähle meine Social-Internet-Accounts: Blogger, Flickr, Xing, .... und viel zu viele mehr.
Laufe ich Gefahr, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu entwickeln?
Mal schauen, was die Fachleute sagen. Siehe da, es gibt ca. ein Dutzend verschiedene Narzisstische Prototypen, jeder mit anderen Kernkomponenten, die wiederum mit unterschiedlichen Testverfahren und Skalen gemessen werden. - Jones beschreibt mit seinem „Gotteskomplex“ den Prototyp der narzisstischen Persönlichkeit: kennzeichnend sind Omnipotenzphantasien, Wunsch nach Bewunderung und Geliebtwerden, ein hohes Selbstvertrauen, jedoch auch versteckte Lerndefizite, die durch eine große Redegewandtheit verdeckt werden.
- In Anlehnung an Freuds „primären Narzissmus“ beschreibt Grunberger die narzisstische Persönlichkeit: Wie ein Fetus im Mutterleib, empfindet ein Narzisst sich einzigartig und erwartet bedingungslose Verwöhnung durch seine Umgebung.
- Reich legt den Schwerpunkt auf das sexuell perverse Verhalten: der sogenannte „phallisch-narzisstische“ Charakter – häufiger bei Männern beobachtet – stellt sich arrogant und aggressiv dar, als Schutz gegen Unterlegenheitsgefühle.
- Olden betont speziell die intellektuellen Defizite: die sog. „Schlagzeilenintelligenz“ sei die Tendenz, grundsätzlich keine Details zur Kenntnis zu nehmen und trotzdem den Eindruck von Bildung zu vermitteln.
Erkennt sich jemand wieder? (Oder - wir sind ja unter uns - erkennt jemand jemand anderen wieder?!) Und – was hat das alles mit MySpace und Co. zu tun?
Wenig, so viel ist klar. Aber im Verständnis von Narzissmus-Tendenzen, die mit der NPI-Skala (s.o.) gemessen werden, sind vor allem Exhibitionismus, Eitelkeit und Selbstüberschätzung ausschlaggebend. Passt schon besser. Neinnein, rufen die Social-Internet-Apologeten, es geht bei MySpace und Co. doch nicht um MICH, sondern um UNS. Aber ist nicht die Zahl der Freunde die neue Status-Währung und der Blick in den Spiegel, der uns der eigenen Beliebheit versichert?
Ist Twenge von der Wahrheit vielleicht gar nicht so weit entfernt, wenn man in diesem Paralleluniversum Freundschaften mit einem Klick beenden kann?
Oder das Gegenteil ist der Fall – die von Twenge ins Visier genommene Generation erklimmt die nächste Evolutionsstufe zu wahrhaft sozialen Wesen: während sie auf irgendeiner Website jedem unbekannten Leser mitteilen, dass sie endlich ihre Schuhe geputzt, gerade ein Omelette verbrannt haben oder am nächsten Morgen unbedingt einen Zahnarzttermin vereinbaren müssen, tasten sie in blind nach den Verbindungskabeln zum Rest der Welt, um sich in Borg-Manier unter ständigem Cyberspace-Geschnatter jederzeit zu versichern, dass Sie am Kollektiv eingestöpselt sind.
Äh, wo war ich? Soweit meine unausgegorenen Gedanken. Möchte jemand helfen?